Vor Christus sind alle Menschen gleich
18./19. Juni 2022
12. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr C, Flüchtlingssonntag
Lesungen: Sach 12,10-11. 13, 1 , Gal 3,26-29,Lk 9,18-24
Prediger: P. Ludovic Nobel
Liebe Mitfeiernde
«Bring mir nur ja keine Protestantin nach Hause» – so hiess es wohl oft in der Generation unserer Eltern und Grosseltern. Junge Männer und Frauen im heiratsfähigen Alter erhielten solche gut gemeinten Ratschläge (oder Befehle). Sie – und die ganze Familie – sollten damit vor Unglück und Schande bewahrt werden. «Bring mir nur ja keinen Schwarzen nach Hause», hiess es dann später. Und so gibt es immer wieder andere Gruppen, die in solchen familiären Äusserungen mehr oder weniger deutlich als unerwünscht bezeichnet werden. Mit wem man die eigenen Kinder gerne zusammen sähe, das ist wohl der härteste Test für Toleranz und Offenheit, den man sich vorstellen kann. In fremde Länder in die Ferien gehen, exotische Küche in einem Restaurant geniessen, vielleicht sogar mit Nachbarn anderer Nationalität nette Kontakte pflegen – das mag drinliegen. Aber in der eigenen Familie, mitten im intimen Bereich der verwandtschaftlichen Beziehungen jemand Fremder? Da hört der Spass auf. Der Umgang mit fremden Menschen war schon für Paulus eine Herausforderung. Darüber haben wir in der Lesung gehört. In heutiger Sprache übersetzt sagt er etwa: «Es gibt nicht mehr Schweizer und Kosova-Albaner, nicht mehr Hetero- und Homosexuelle, sondern wir sind alle eins in Jesus Christus». Oder anders: «Ob Europäerin oder Afrikanerin, ob Schweizer Pass oder Ausländerausweis, ob Single oder verheiratet: egal! All das gilt nichts für unsere Gemeinschaft in Jesus Christus.» Vor Christus sind alle Menschen gleich – gleich wichtig, gleich würdig, gleich an Rechten und Pflichten, unabhängig von Herkunft, gesellschaftlicher Stellung und Geschlecht.
Eine solche Botschaft, war damals zur Zeit Jesu nicht einfach zu verkünden. Auch heute entspricht sie nicht der weltlichen Mentalität. Sind wir nicht oft der Meinung, dass der Direktor wichtiger sei als der Handwerker? Ist doch nicht ein Bischof etwas höher als ein einfacher Christ?
Wenn man Paulus ernst nimmt, dass ist der christliche Glaube ganz anspruchsvoll.
Glaube ist also kein Sonntagsspaziergang, sondern ein intensiver Lebensweg. Jesus kündigt tatsächlich an, dass er von den politisch und religiös Mächtigen abgelehnt und verfolgt werden wird, ja dass sie ihn sogar umbringen werden. Er reiht sich ein in die unvorstellbare grosse Zahl von Menschen, die wegen ihrer Überzeugung und ihrer freien Meinungsäusserung benachteiligt werden und Gewalt erleiden. Als Christen gehören wir auf die Seite dieser Menschen. Es ist sozusagen Teil unseres Glaubensbekenntnisses, dass es Verfolgte gibt, die Schutz und Hilfe brauchen – und auch das Hoffnungsfenster der Auferstehung: der Tod und die Macht der Verfolger haben nicht das letzte Wort. Jesus nennt diese Lebenshaltung «Das Kreuz auf sich nehmen». «Das Kreuz auf sich nehmen» bezeichnet keine allgemeine Bereitschaft zum oder sogar Freude am Leiden, an Krankheit, Schmerzen, Trauer oder Armut. Die Hinrichtung am Kreuz war bei Jesus die Konsequenz seiner Liebe zur Gerechtigkeit, seiner Nähe zu den Randfiguren der damaligen Gesellschaft, seiner offenen und lebensbejahenden Deutung der Religion. Weil Jesus auf seinem Weg blieb, wollten ihn die Mächtigen beseitigen und bedienten sich dazu auch der damaligen Besatzungsmacht, der Römer. «Das Kreuz auf sich nehmen» bedeutet also, dem eigenen Gewissen zu folgen, die Würde anderer Menschen und die eigene Würde zu verteidigen, auch wenn sich daraus Nachteile ergeben, sich dem Druck von Macht und Gewalt nicht zu beugen. Das sind grosse Ansprüche, und jede und jeder von uns kennt die Angst, die eigenen Sicherheiten aufs Spiel zu setzen, die Schwäche, wenn es darum geht, die Komfortzone zu verlassen, die Versuchung der Resignation angesichts riesiger Probleme wie der Millionen Flüchtlinge auf der ganzen Welt. Wie finden wir da persönlich und im Kreis der Menschen, die für uns wichtig sind, einen guten, überzeugenden Weg? Den Schlüssel zu einer ehrlichen, existenziellen Auseinandersetzung mit diesen entscheidenden Lebensfragen gibt eine Frage, die im Ausschnitt des heutigen Bibeltextes leider weggelassen wurde. Jesus formuliert nämlich nicht einfach religiöse Gebote und Anforderungen, sondern er vertraut darauf, dass die Menschen aus ihrem Inneren heraus verstehen, was im Leben zählt. Seine Schlüsselfrage lautet: Was nutzt es einem Menschen, die ganze Welt zu gewinnen und sich selbst zu verlieren oder Schaden an sich selbst zu nehmen? (Lk 9,25) «Die Welt gewinnen» bedeutet, erfolgreich zu sein in den Kategorien von Ansehen, Einfluss und materiellem Reichtum. Jesus weist mit seiner Frage auf die Gefahr hin, uns selbst und den Sinn unseres Lebens zu verlieren, wenn wir diese Erfolge über alles stellen. Die Frage könnte auch lauten: wie berechnen wir Gewinn und Verlust in unserem Leben? Jesus schlägt uns vor, die Bilanz nicht an unserem Bankkonto oder unserer gesellschaftlichen Stellung festzumachen, sondern an anderen Werten, die andere als Minus verbuchen würden: Geld, das wir gespendet haben; Zeit, die wir für andere eingesetzt haben; klare Worte, die uns Ärger eingebracht haben; Nähe zu Menschen, mit denen sonst niemand etwas zu tun haben will; Menschen verzeihen, die uns beleidigt haben.
Amen.