Das Not-wendige tun
09./10. Juli 2022
15. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr C
Lesungen: Dtn 30,9c-14; Lk 10,25-37
Predigerin: Bettina Gruber Haberditz
Ewiges Leben erben, das ist ein gutes Ziel.
Die Geschichte des barmherzigen Samariters, die Jesus auf die Frage des Schriftgelehrten hin erzählt, hat über die Jahrhunderte eine solche Wirkung entfaltet, dass sie jenen, die heute erste Hilfe leisten, den Namen „Samariter“ gegeben hat. Wir nehmen das einfach so hin, aber hören Sie doch, wie das klänge, wenn die Hilfsorganisation „die Luzerner“, „die Bayern“, „i Siciliani“ oder „les Savoyards“ hiesse.
Der Schriftgelehrte kennt natürlich seine Bibel und ihre Auslegung. Er kann den entsprechenden Text sofort zitieren. Er hat ihn gelesen, auswendig gelernt. Dass Bibelkundige aber Gefahr laufen, bei der Textkenntnis stehenzubleiben, ist das wenig schmeichelhafte Urteil Jesu für den Fragenden.
Erste Anfrage auch an uns, die wir die Evangelien doch einigermassen kennen: Was machen wir mit dem Gehörten, dem Gelesenen? Sind Jesu Worte und Taten uns nicht nur bekannt, sondern so ins Herz geschrieben, dass sie unser Handeln leiten?
Wer ist mein Nächster? Mit dieser Frage will der Schriftgelehrte den predigenden Zimmermann auf die Probe stellen und bestätigt bekommen, was für ein gottgefälliges Leben zu beachten ist. Bei mir kommt aber der Verdacht auf, dass er sich auch versichern will, wo er ohne Gefahr für sein Seelenheil die Grenze ziehen darf. Auch an unserer Stelle fragt er: Was genau wird meinem himmlischen Konto gutgeschrieben, damit ich mich im Alltag danach richten kann?
Nun aber in die Geschichte hinein. Ein Mann ist unterwegs nach Jericho. Von Jerusalem her kommend, geht es bergab. Ein gemütliches Reisli ist das aber nicht, denn es ist trocken-heiss auf dem staubigen, steinigen Weg. Räuber nehmen ihm alles weg und richten ihn übel zu. Da liegt er nun halbtot, also in kritischem Zustand.
Der Priester und später der Levit, die auch von Jerusalem herkommen, helfen nicht.
Es wurde schon viel darüber spekuliert und geschrieben, warum sie denn nicht helfen. Einen Toten zu berühren, macht unrein und würde es ihnen für mehrere Tage verunmöglichen, ihren Dienst am Tempel zu verrichten. Aber sie sind nicht auf dem Weg zur Arbeit, sondern haben ihren Dienst soeben für einige Tage beendet. Solche Spekulationen über ihre Gründe führen am eigentlichen Thema vorbei und sind wohl eher Ausdruck unseres Bedürfnisses, auch für uns Entschuldigungen für unterlassene Hilfe zu finden. Die beschämende Anfrage: Welche Argumente legst du dir zurecht, um angesichts der Not, die dir begegnet, das Not-Wendige nicht zu tun?
Notsituationen treffen uns fast immer zufällig, wie die beiden Gottesdiener am Feierabend. Zufällig heisst, es durchkreuzt die Planung meines weiteren Tages. Zufällig bedeutet aber auch: es fällt mir zu. Es stellt sich mir in den Weg, als unvorhergesehene Aufgabe für gerade jetzt, für mich und keine/n andere/n.
Verfügbar sein, weil ich fremde Not nicht nur sehe, sondern sie mich bewegt – dafür wird dem schrift-kundigen Juden ein Samaritaner als Vorbild hingestellt. Ausgerechnet so einer, mit dem ein Jerusalemer im Alltag wenig gemeinsam hat, oder zumindest davon überzeugt ist, dass die Samaritaner ganz anders ticken und ihnen darum nicht zu trauen ist.
Hilfe von unerwarteter Seite, haben Sie diese auch schon erleben dürfen? Es muss nicht gleich lebensrettend sein wie beim reisenden Jerusalemer. Doch auch wenn es um kleinere Dienste geht, können wir erfahren, wie uns so eine Zuwendung „aufstellt“. Nachahmen ist erwünscht!
Nun aber noch zu einem letzten Punkt, der mir beim Lesen ganz wichtig geworden ist, mein Schlüssel zum Text. Jesus beantwortet nicht die Anfangsfrage „Wer ist mein Nächster?“. Er fragt am Ende der Geschichte: Wer ist für den Überfallenen zum Nächsten geworden. Diese Umkehrung, wenn ich sie nicht überlese, ändert die Blickrichtung und die Kernaussage entscheidend.
Ich lese daraus: Deine Frage nach dem ewigen Leben ist eine legitime Frage, aber sie darf nicht deine erste und einzige Sorge sein, sonst verfehlst du dein Ziel. In deiner Gottesbeziehung geht es nicht nur um dich, denn du bist Teil einer Gemeinschaft von Geschwistern. Im Zentrum von Gottes Plan und Sorge stehen die berechtigten Bedürfnisse aller Menschen, ja aller Geschöpfe. Die Not jeder Kreatur hat Priorität vor deiner Befindlichkeit.
Gott lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit ganzer Kraft und ganzem Denken darf auch im Gottesdienst geschehen und im Studium der Schrift und der Gebote, aber muss sich bewähren in Respekt vor dem, was Gott in Liebe neben mir geschaffen hat. „… und deinen Nächsten wie dich selbst“ ist dann kein Anhängsel des Gebots, sondern gehört untrennbar zur Gottesliebe, weil unser Gott ein ganz Anderer und ein Gegenwärtiger ist, dem seine Geschöpfe viel bedeuten.
Gottsuche und Gottes-Dienst werden in geschwisterlichem Mitgefühl und anpackender Hilfe konkret. Dafür sollen mir mein Öl und mein Wein, mein Geld und meine Zeit nicht zu kostbar sein.
Und wie die Lesung aus dem Buch Deuteronomium sagt: Gottes Wort „ist ganz nah bei dir, es ist in deinem Mund und in deinem Herzen, du kannst es halten“.
Es ist ganz nah. Keiner muss es dir vom Himmel holen, weil Gott nicht nur im Himmel zu finden ist, sondern auch auf der Welt, im Gesicht seiner Geschöpfe. Schau um dich, lass dich berühren und improvisiere mit dem, was du gerade dabeihast.
Dann bist du auf gutem Weg zum ewigen Leben.
Amen