Du wirst nicht überwältigt werden
05./06. März 2022
1. Fastensonntag, Lesejahr C
Lesungen: Dtn 26,4-10, Röm 10,8-13, Lk 4,1-13
Predigterin: Christina Mönkehues-Lau
Liebe Mitfeiernde
«Ich hätte nicht gedacht, dass die erste Tagesschau ohne Corona so deprimierend sein wird …», so schrieb eine Freundin von mir vor etwas mehr als einer Woche. Nein, wer hätte das gedacht, dass 2 Flugstunden von uns entfernt, unter den Augen der Welt das Unvorstellbare passiert: In der Ukraine hat Wladimir Putin einen Angriffskrieg gestartet, 1.2 Millionen Flüchtlinge haben schon die Ukraine verlassen, Familien sind voneinander getrennt, Menschen haben Todesangst, werden verletzt, sterben.
Es ist Krieg mitten in Europa – und mitten in einer digitalisierten Welt. Immer wieder kommt dieser Krieg uns sehr nahe, wenn wir in den sozialen Medien Zeuginnen und Zeugen des Alltags im Kriegsgebiet werden, wenn Bürgerinnen und Bürger aus der Ukraine mit Medien in der Schweiz direkt Kontakt aufnehmen, um von ihrem persönlichen Schicksal zu erzählen, wenn Menschen das persönliche Netzwerk nutzen, um Putins Propagandamaschine ihre bittere Realität entgegenzusetzen.
Dieser Krieg – er kommt uns sehr nahe und er geht uns sehr nahe. Ich ertappe mich in der letzten Woche öfter dabei, dass ich zwischendurch mal eine Pause von all den Nachrichten einlegen muss und dann doch ein schlechtes Gewissen habe, weil die Menschen in der Ukraine ja auch nicht einfach die Pausentaste drücken können.
Und ich fühle mich hilflos. Und ich fühle mich ohnmächtig. Was kann ich schon tun angesichts dieses Krieges …?
«Er wurde vom Geist in der Wüste herumgeführt, 40 Tage» – so heisst es im heutigen Evangelium. Auch Jesus steckt mittendrin in einer Extremsituation. Hitze, Hunger und Durst, kein Schutz, Ausgeliefertsein. Und gerade ausserhalb der Sicherheit des gewohnten Alltags wird er konfrontiert mit Entscheidungen: Wer übernimmt in meinem Leben die Führung? Von wem lasse ich mich leiten? Was sind meine Prinzipien? In einer Exegese zu unserer Bibelstelle finde ich den Hinweis, dass hier Jesus nach Kindheitsgeschichte und Bericht über seine Taufe zum ersten Mal aktiv in Erscheinung tritt. Ja, es stimmt: Jesus ist es, der handelt, er ist es, der entscheidet.
Handlungsfähig bleiben – gerade in extremen Situationen. Dazu passt das Motto, das dieser Tag der Kranken trägt, den wir heute feiern: «Lebe dein Leben». Bischof Markus Büchel, der das Geleitwort zum Tag der Kranken geschrieben hat, fragt nicht ganz zu Unrecht, ob das nicht auf den ersten Blick zynisch wirkt. Wie viele Menschen würden gerne das Leben voll auskosten, aber sie können nicht. Ein schwerer Unfall, die Umstände der Pandemie, ein Schicksalsschlag, eine chronische Krankheit – all das kann das Leben völlig umkrempeln. Und doch: Das Motto des Krankensonntags ist auch eine Erinnerung, dass das «Leben in Fülle» nicht heisst, dass wir immer gesund, immer leistungsfähig sind.
Das Leben fordert uns immer wieder heraus, unter den Umständen, wie unmöglich sie auch sein mögen, auszuloten, wie ein Leben in Fülle gelingen kann. Und Gott sagt JA zu jedem Leben, trägt es mit, begleitet uns in diesem Leben und darüber hinaus. Darauf dürfen wir hoffen und daraus Kraft schöpfen.
Die Mystikerin Juliana von Norwich hat ihren Glauben an diese Gewissheit im 14. Jahrhundert eindrücklich niedergeschrieben: «Gott sagte: Du wirst nicht überwältigt werden. Diese Worte (…) wurden sehr klar und mit Macht gesprochen, um uns Sicherheit und Kraft gegen alle Trübsal zu geben, die da kommen mag. Er sagte nicht: Du wirst nicht versucht werden, du wirst keinen Kummer haben, du wirst nicht krank sein. Sondern er sagte: Du wirst nicht überwältigt werden.»
Wer Hoffnung behält, wer weder Krankheit noch Machtmissbrauch oder Gewalt das letzte Wort überlassen will, der bleibt handlungsfähig. In diesen Tagen bin ich immer wieder beeindruckt davon, was der Krieg mit den Menschen macht. Obwohl es für viele Menschen in der Ukraine um das reine Überleben geht, gibt es viele Gesten und Zeichen der Solidarität. Menschen helfen sich mit Essensvorräten aus, offerieren Mitfahrgelegenheiten, bieten logistische und medizinische Hilfe. Und auch im vermeintlich bröckelnden Europa gibt es sowohl von Regierungen wie auch von der Zivilbevölkerungen Zeichen der Verbundenheit und konkrete Hilfsangebote. Türen werden geöffnet für Flüchtlinge, Spenden an die Grenzen transportiert, Friedensgebete organisiert.
Diese Menschlichkeit inmitten von Unmenschlichem – sie gibt mir Hoffnung. Sie zeigt mir, dass die Botschaft Jesu aus dem heutigen Evangelium heute noch greifbar ist. Dass es Menschen gibt, die nicht zuerst das Brot wählen, das die eigenen Bedürfnisse stillt. Dass es Menschen gibt, die nicht die Macht über die Erde wählen, sondern die Gemeinschaft miteinander. Dass es Menschen gibt, die nicht Allmachtsfantasien ausleben, sondern mitfühlen mit den Schwächsten der Gesellschaft. Kurz: Menschen, die gerade in Extremsituationen handlungsfähig bleiben und das Gute wählen.
Amen.